Der
Pinselund die Maus

eine "Dilemma"-Geschichte mit Happyend
von Trudi Kilchmann

Auf dem Arbeitstisch stand ein hohes Konfitürenglas voller Pinsel: dicke, dünne, flache, feine, spitzige, breite und schmale. Mittendrin  reckte sich einer von ihnen selbstbewusst in die Höhe. Er war der Liebling seiner Meisterin, weil er mit seinen mittleren Massen für fast alles zu gebrauchen war. Dafür musste er auch viel mehr arbeiten als seine Kollegen, was er aber ausschliesslich als Bevorzugung empfand. Er war eitel und auf gutes Aussehen bedacht und wollte nicht, dass man ihm die gelegentlichen Strapazen ansehen konnte. Nach seinen Einsätzen machte er sich immer wieder ordentlich zurecht. Beim Baden und gründlichen Waschen machte er gute Miene zu der unumgänglichen Prozedur. Nachher streckte er beim Trocknen solange seine Haare straff und gerade in die Höhe, bis seine Pinselfrisur perfekt sass.Von seinem Konfiglas aus hatte er einen guten Ueberblick auf das ganze Umgelände. Da waren bunte Farbtuben, -töpfe und -schachteln, Ölkreiden, schneeweisse Kartonpapiere und vieles mehr, das ihm zur Verfügung stand. Es gab auch zwei Wassertöpfe, den einen zum Farbenmischen, den andern, um sich immer wieder ausspülen zu lassen. Ferner alle möglichen Bleistifte, Schneidemesser usw. Er kannte sie alle. 

Und so wartete er mit Vorfreude von Mal zu Mal, bis sich seine Herrin ihm wieder zuwandte und er sie durch seinen geschmeidigen und zügigen Pinselstrich zu kreativen Schöpfungen inspirieren konnte. Vieles, was da entstand, war sein Verdienst, das war natürlich klar. Seit einiger Zeit wurden aber die Wartezeiten immer länger, tagelang und sogar mehr. Seine Pinselkollegen vermochten ihn nicht zu trösten, denn sie waren ja nicht so verwöhnt wie er und wussten nicht, wie das ist, wenn man plötzlich nicht mehr beachtet wird. Ausserdem wurde es ihm zu langweilig, dauernd im Glas stehen zu müssen und keine Bewegung und Abwechslung zu haben. Er fragte sich, was wohl geschehen sei und ob evtl. seine Herrin krank wäre, könnte ja sein. Die Farben um ihn herum interessierten ihn fortan auch nicht mehr, da er sie nicht mehr mischen und auftragen konnte. Zusehends sah er sich seiner einzigen Lebensaufgabe beraubt, stehengelassen, verschmäht und überzählig geworden. Der Pinsel wurde immer trauriger und hing schon ganz schräg, quer zwischen seinen Kollegen durchhängend, im Glasbehälter. Er konnte dies alles nicht verstehen.

Eines Morgens, es war noch halbdunkel, gewahrte er durch die offen gelassene Türe in der Ecke eines andern Raumes einen hellgrauen Kasten, an dem sich bunte Bilder bewegten und von dem ein Piepsen und Zischen ausging. Eine flinkes Mäuslein bewegte sich auf einem Untersatz hin und her und dirigierte offensichtlich das Geschehen am Kasten durch seine lebhaften Bewegungen. Die Hand, von welcher es geführt wurde, war ja die gleiche, mit der er als Pinsel zusammengearbeitet hatte!! Eifersucht kam in ihm hoch. Ist diese unbedeutende, graue Maus wohl der Grund dafür, dass er dermassen vernachlässigt und stehengelassen wurde? Ist das der Dank für alle seine Leistungen, die er vorzuweisen hat ? Ganze Stapel von Bildern sind entstanden, nur dank ihm. Und jetzt so etwas. Undank ist der Welt Lohn! Dafür würde er sich rächen, und zwar sofort! Er liess sich vornüber kippen, riss alle andern Pinselkollegen mit sich und stiess mit ihnen an die gefüllten Wasserbecher, die ihrerseits ins Wanken kamen und ihren ganzen Inhalt über Farben und Papiere
ausgossen. Die chaotische Bescherung war komplett. Vorerst wurde dies jedoch von niemandem bemerkt.
 


Galerie Fresco
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